Geschrieben von Alena Diedrich
Wer so viel Zeit auf dem Acker zubringt, wie ein Mitglied der Solidarischen Landwirtschaft, der hat schon Bekanntschaft mit ihnen geschlossen: den Individualisten unter den Früchten. Knollige Möhren, Kringel-Gurken oder Herzchen-Kartoffeln, die „Auswüchse“ des Ackerbaus sind vielfältiger als die EU-Norm uns träumen lässt. Die eigenwillige Form und Ästhetik von natürlich gewachsenem Durchschnittsgemüse ist heute genauso in Vergessenheit geraten wie alte Sorten.
Die EU-Verordnung Nr. 1677/88 zur Festsetzung von Qualitätsnormen für Gurken, auch bekannt – und oft verspottet – unter dem Namen »Gurkenverordnung« wurde 1988 eingeführt. Sie sorgte dafür, dass innerhalb der EU vermarktete Gurken der Handelsklasse »Extra« maximal eine Krümmung von zehn Millimetern auf zehn Zentimetern Länge aufweisen durften. Durch die Vereinheitlichung sollte die Qualität gesichert, Verpackung und Transport vereinfacht und die maschinelle Weiterverarbeitung optimiert werden.
Die Verordnung wurde 2009 durch die Europäische Kommission außer Kraft gesetzt, obwohl die Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten sowie Handels- und Bauernverbände sich für ein Beibehalten aussprachen. Seither verwenden die wichtigsten Großhändler die Richtlinie weiterhin als interne Norm. Vergleichbare Verordnungen wurden 2009 ebenfalls für Zucchini, Möhren, Lauch, Spargel, Aprikosen, Artischocken, Auberginen, Avocados, Bohnen, verschiedene Kohlsorten, Kirschen, Pilze, Knoblauch, ganze Haselnüsse, Walnüsse, Melonen, Zwiebeln, Erbsen, Pflaumen, Sellerie, Spinat und Chicoree aufgehoben. Für Äpfel, Birnen, Zitrusfrüchte, Kiwis, Erdbeeren, Pfirsiche, Nektarinen, Weintrauben, Salatköpfe, Paprika und Tomaten blieben hingegen detaillierte Vorschriften bestehen.
Heute werden nicht nur im konventionellen Landbau 30 bis 40% des Gemüses, das in Optik oder Form nicht der Norm entspricht, aussortiert. Auch im Bio-Anbau wird ein Teil der Ernte aufgrund des Aussehens nicht als frisches Lebensmittel vermarktet. Verwendung findet diese Ausschussware noch in verarbeiteten Produkten oder Fertiggerichten. Der Rest wird wieder untergepflügt – so sorgt er immerhin noch für einen Erhalt der Bodenqualität – oder er landet auf dem Kompost.
Die Internetplattformen Culinary Misfits, die Catering aus krummem Gemüse sowie Workshops anbietet, und Etepetete, bei der man eine »Gemüseretterkiste« abonnieren kann, pflegen schräge Sachen. Sie retten die kulinarischen »Freaks« vor der Tonne und unterstützen durch deren Vermarktung die Biobauern. Doch der Schutz des extravaganten Gemüses ist längst keine Lifestyle-Nische mehr. Selbst Discounter weiten inzwischen die Norm und integrieren schräges Gemüse als »Bio-Helden« in ihr Sortiment, so z.B. PennyMarkt oder Rewe.
Auch wenn Rewe und Penny damit sicherlich eine Möglichkeit gefunden haben, mit wenig finanziellem Aufwand eine große Gewinnspanne zu erzielen, ist die Wiederaufnahme von Ausschussgemüse in das Sortiment dennoch ein Anfang, um uns KonsumentInnen wieder an das vielfältige und variantenreiche Wachstum von Obst und Gemüse zu gewöhnen. Wer erinnert sich noch an die toll-gewachsenen Kartoffeln, die wir im letzten Jahr bei der SoLawi geerntet haben? Wir haben uns an ein einheitliches Aussehen gewöhnt und dies als Qualitätsmerkmal akzeptiert. Viele müssen sich hiervon erst einmal wieder entwöhnen.
Die SoLawi bietet dazu eine gute Möglichkeit. Sie arbeitet nachhaltig und ohne Klassennormen. ›Schräges‹ Gemüse ist hier keine krumme Sache. Auch verkannte Bodenschätze kommen bei uns in die Kiste!